Ep.5/ Eigensinn statt Egoismus
Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz; einem einzigen, unbedingt heiligen Gesetz in sich selbst; im Sinn des Eigenen.
— Hermann Hesse
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In den Tiefen unseres Bewusstseins liegt eine oft überhörte Stimme - die des Eigensinns. Oft missverstanden und vorschnell verurteilt, birgt sie doch Weisheit und Potential zur Selbsterkenntnis. Dieser Text ist eine Betrachtung über die wahre Natur des Eigensinns, inspiriert von den Gedanken Hermann Hesses und Carl Jungs.
Gesellschaftliche Missverständnisse
In unserer Gesellschaft gilt Eigensinn als Sünde. Eigensinn wird dem Egoismus gleichgesetzt, denn der Eigensinnige sei nur an sich selbst interessiert. Dabei besteht die Prämisse, dass die einzigen Interessen des Menschen Macht und Geld seien.
Hermann Hesses Perspektive
Meiner Interpretation nach vertritt Hermann Hesse den folgenden Kontrastandpunkt. Die eigentliche Bedeutung des Begriffes betrachtet das Eigene nicht als macht- oder geldbestrebte Ego, sondern das jung'sche Selbst. Da in diesem Selbstbegriff das Ego und dessen berührter Teil des persönlichen Unbewussten nur ein minimaler Bestandteil der gesamten Psyche und der restliche ein kollektiv-unbewusster und somit natürlich-göttlicher ist, ist der Eigensinn die Stimme des Natürlich-Göttlichen, dessen Bestrebungen weitaus wichtigere Dinge abzielt als Macht oder Geld.
Der verkannte Eigensinnige
Die Gesellschaft sieht den Eigensinnigen als machtgierigen Egoisten und wird höchstens in der Künstlerrolle geduldet, wo er keinen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Schaden anrichtet. Falscher könnte das Bild nicht gezeichnet werden, denn der Eigensinnige zeigt Treue zu viel höheren Gesetzen als die gesellschaftlichen. Warum sonst werden unsere historischen Helden wie Jesus und Sokrates, welche seinerzeit gesteinigt wurden und lieber ihr Leben ließen als ihren eigenen Sinn aufzugeben, heute verehrt?
Eigensinn als Spiegel der Gesellschaft
Das Misstrauen dem Eigensinnigen gegenüber ist vielmehr ein Spiegel der Gesellschaft, welches die eigenen verpönten Schatteninteressen vor Augen führt. Die Annahme, dass ein eigensinniger Mensch bloß Geld und Macht im Sinn haben könnte, ist die Reflexion der Grenzen des eigenen Selbstbildes und somit eine Projektion des eigenen Schattens.
Der Weg zur Selbstfindung
Der Eigensinn, richtig verstanden, ist kein Akt der Rebellion, sondern ein Weg zur Selbstfindung. Er lädt uns ein, tiefer in uns selbst zu blicken und die Stimme unseres authentischen Selbst zu hören. In dieser inneren Auseinandersetzung liegt die Chance, über oberflächliche Bestrebungen hinauszuwachsen und zu einem ganzheitlicheren Verständnis unserer selbst zu gelangen. Vielleicht ist es gerade diese Form des Eigensinns, die uns zu wahrhaft erfüllten Mitgliedern der Gesellschaft macht.