Ep.4/ Der Stoff aus dem die Träume sind
Wir sind aus demselben Stoff wie die Träume; und unser kleines Leben ist von Schlaf umgeben.
— William Shakespear
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Carl Gustav Jung, bekannt als Psychiater, Psychotherapeut und Psychologe, entwickelte Theorien, die weit über die individuelle Psyche hinausgingen. Seine Konzepte reichten bis ins sogenannte kollektive Unbewusste, wo nach seiner Auffassung Archetypen als psychische Strukturen die Welt und Psyche formen. Obwohl dies den Anschein erwecken könnte, Jung habe das Gebiet der Psychologie verlassen und sei in die Philosophie und Metaphysik vorgedrungen, betonte er selbst, metaphysische Behauptungen zu meiden. Jung argumentierte, dass alle Äußerungen von der Psyche getroffen werden und somit eine inhärente Beschränkung aufweisen, die nur die Psyche selbst erfassen kann.
Der historische Kontext ist hierbei entscheidend. Jung lebte Anfang des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit, die von streng materialistischer Wissenschaft geprägt war. Philosophen galten oft als weltfremde Denker, die sich im Abstrakten verloren. Selbst Freud hatte Schwierigkeiten, seine Ideen zum Unterbewusstsein zu etablieren. Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten führte schließlich zum Bruch mit Freud und zum Ende seiner akademischen Karriere. In der Folge widmete sich Jung der introspektiven Erforschung des Unbewussten.
Bernardo Kastrup und der Analytische Idealismus
Der Computerwissenschaftler und Philosoph Bernardo Kastrup sieht in Jungs Werken jedoch durchaus metaphysische Ideen. In seinem Buch "Die Metaphysik C.G. Jungs" arbeitet er diese heraus und verknüpft sie mit seiner Philosophie des Analytischen Idealismus. Dieser Ansatz betrachtet die Psyche als fundamentale Substanz des Universums. Kastrup argumentiert, dass die Welt im Kern nicht aus messbaren Quantitäten, sondern aus Qualitäten wie Farben, Gefühlen und Geräuschen besteht. Die physisch-materielle Welt sei demnach lediglich eine Darstellung der psychischen Welt, ähnlich wie ein Bordcomputer eines im Unwetter fliegenden Flugzeuges Daten wie Luftdruck, Himmelsrichtung und Geschwindigkeit repräsentiert.
Diese Sichtweise löst das Rätsel des Bewusstseins in der materialistischen Weltanschauung. Statt Bewusstsein als Nebenprodukt des Gehirns zu betrachten, sieht der Analytische Idealismus Materie als Produkt der Psyche - und somit das Gehirn als Darstellung mentaler Vorgänge. Kastrup führt den Begriff des "larger consciousness" oder "mind-at-large" ein, um ein allumfassendes Bewusstsein zu beschreiben, von dem unsere individuellen Psychen nur Segmente sind.
Beispiel aus der Traumforschung
Zur Veranschaulichung des Analytischen Idealismus liefert Kastrup mehrere Beispiele, viele davon aus der Traumforschung mit Patienten mit Dissoziativen Identitätsstörungen - also Menschen mit multiplen Persönlichkeiten.
In einer Studie von Barrett (1994) zeigten 28% der Teilnehmer mit Dissoziativer Identitätsstörung folgende Ergebnisse:
Die Hauptpersönlichkeit berichtet dem Therapeuten einen Traum, in welchen sie mit weiteren Charakteren interagiert.
Die Teilpersönlichkeiten berichten dem Therapeuten den selben Traum, jedoch aus einer anderen Perspektive - nämlich der Perspektive des jeweiligen Charakters, welcher die entsprechende Teilpersönlichkeit verkörpert.
Und ja, in manchen dieser Träume schlagen sich die Charaktere gegenseitig die Köpfe ein - so wie wir im echten Leben.
Diese Studie ist also eine Analogie für uns Selbst im Leben. Der Patient stellt das “mind-at-large” dar, das was die fundamentale allumfassende Substanz des Seins ist. Somit ist jedes Lebewesen sozusagen eine dissoziierte Persönlichkeit des “mind-at-large”.
Implikationen und Schlussfolgerungen
Diese Perspektive hat weitreichende Implikationen:
Unser Bewusstsein könnte auch nach dem Tod fortbestehen.
Alles ist im Grunde miteinander verbunden.
Die physische Welt ist ein Ausdruck der mentalen Aktivität des kosmischen Bewusstseins.
Kastrup argumentiert, dass dieses Modell eleganter und sparsamer ist als der Materialismus, da es keine zusätzliche ontologische Kategorie außerhalb des Bewusstseins erfordert. Die klassische Frage aus der Philosophie, wie denn Materie und Psyche miteinander verbunden sind, würde somit wegfallen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kastrups Analytischer Idealismus eine faszinierende Interpretation von Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten darstellt. Kastrup verdeutlicht die universelle Ebene der Theorie C.G. Jungs und betont somit, dass das individuelle Bewusstsein zu einem Teil des größeren kosmischen Geistes gehört, was uns einlädt, unsere Verbindung zur Welt und zueinander neu zu überdenken.
Reflexionsfragen
Wenn Bewusstsein die Grundlage aller Realität ist, wie verändert das meine Sicht auf meine eigene Rolle im Universum und meine Verbindung zum Göttlichen oder Absoluten?
Wie beeinflusst die Vorstellung, dass wir alle Ausdruck eines einzigen, universellen Bewusstseins sind, meine Beziehungen zu anderen Menschen und mein Mitgefühl für sie?
Welche Aspekte meines Lebens oder meiner Erfahrungen erscheinen in einem neuen Licht, wenn ich sie aus der Perspektive betrachte, dass die physische Welt ein Ausdruck des Geistigen ist und nicht umgekehrt?
Quellen
Barrett, Deirdre. (1994). Dreams in Dissociative Disorders. Dreaming. 4. 165-175. 10.1037/h0094410
Jung, C. G. (1977). Erinnerungen, Träume, Gedanken (11. Aufl.). Walter Verlag